"Die größte Leistung ist, sich selbst treu zu bleiben in einer Welt, die einen immerfort zu verändern sucht." Ralph Waldo Emerson

Anderer Sternenstaub

Freitag, 9. Dezember 2011

Ausgelöscht


Ein letztes Mal schaute Bianka aus dem Fenster auf den großen Nussbaum draußen im Garten. Doch es war zu dunkel um etwas zu erkennen. Verabschiedete sich gedanklich von der Elster, die so viele Jahre immer dort gesessen hatte. Ihre Großmutter hatte sie immer als ein Sinnbild Biankas Charakters dargestellt.
„Genauso flink wie meine kleine Enkelin“, hatte sie immer gesagt.
Und ausgerechnet jetzt war der Vogel nicht da. Sie würde sie vermissen. Alle beide. Bianka blickte sich in ihrem Zimmer um. Alles leer und kalt. Mit jedem vollgepacktem Umzugskarton war mehr ihrer Persönlichkeit gewichen. Traurig sahen die kahlen Wände aus. Das war nun nicht mehr ihr Zimmer.
„Kommst du?“, tönte es von unten.
Ihre Mutter. Bianka atmete tief durch. Sie durfte nicht weinen. Es war besser so.
Ab jetzt würde ein neues Leben beginnen. Genau so war es und nicht anders. In wenigen Stunden würde alles, was je zu ihr gehört hatte, der Vergangenheit angehören.
„Da bist du ja endlich“, empfing ihre Mutter sie unten.
Im selben Moment klingelte Biankas Handy. 'True Colors' von Cindy Lauper. Ihr Lied. Das von Timo und ihr.
Ihre Mutter schaute sie an. In ihrem Blick lag pures Mitgefühl.
„Schatz, zögere es nicht länger heraus“, sagte sie und streckte ihr die Hand entgegen.
„Es ist besser, wenn du es jetzt schon wegwirfst“, fügte sie hinzu.
Bianka blickte auf ihr Handy. Neun Entgangene Anrufe. Alle von Timo, ihrem Freund. Oder von dem, der mal ihr Freund war. In ihrem anderen Leben.
Bianka schluckte. Dann nahm sie die Simkarte aus dem Telefon und legte sie in die Hand ihrer Mutter. Diese nahm sie, warf sie auf den Boden und trat drauf. Ausgeschaltet. Doch das war nur der erste Faden zu ihrer alten Welt, der nun durchtrennt war.
Auf einmal spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Ihr Vater stand hinter ihr. Er sah erschöpft aus. Er hatte dunkle Augenringe und sein Gesicht war vom Leben gezeichnet. Eigentlich müsste Bianka ihn hassen. Schließlich war all das allein seine Schuld. Wegen ihm würden sie nochmal komplett neu anfangen müssen. Nur seinetwegen musste sie ihre gesamte Kindheit aufgeben. 16 Jahre.
Weil er damals auf die falsche Bahn geraten war. Sich mit den falschen Leuten abgeben musste. Die Kontrolle verloren hatte. Es war so lange her, doch es verfolgte sie immer noch. Einzig und allein aus diesem Grund stand das Leben ihrer Familie auf dem Spiel. Man wollte sie töten. Jeden einzelnen von ihnen. Aber nein, selbst deswegen konnte sie ihn nicht hassen. Nicht ihren Vater. Den Mann, der sie als kleines Kind durch die Luft gewirbelt hatte. Der mit ihr an schwülen Sommerabenden durch das Feld gerannt war. Der ihr wieder aufgeholfen hatte, wenn es ihr schlecht ging.
„Es wird Zeit“, sagte er.
Ein allerletztes Mal sah Bianka sich um. Jetzt war es wirklich soweit. Sie waren dabei einen Schlussstrich zu ziehen. Und gleichzeitig ein neues Kapitel zu beginnen.
Es war ihr unwahrscheinlich schwer gefallen, nicht an ihr Telefon zu gehen. Timo zu ignorieren. Ihre erste große Liebe. Aber es ging nicht anders. Sie konnte nicht auch ihn gefährden. Er würde eine andere finden. Sich neu verlieben. Und sie riskierte nicht mit einer niemals wieder gutzumachenden Schuld zu leben.
Irgendwann würde er sie vergessen. Vergessen, weil sie dann nicht mehr existierte. Bianka Finkenbach wäre ausgelöscht. Für immer.
Ihre Eltern waren schon draußen. Sie hörte, wie der Motor eines Autos gestartet wurde.
Mit langsamen Schritten ging Bianka zur Tür. Dann zog sie sie mit einem Ruck zu.
„Mach's gut“, dachte sie.
Sie lief zum Auto und ließ sich auf die Rückbank fallen. Das Auto fuhr los.
Am Steuer saß ein Mann, den sie nicht einmal richtig kannte und der doch in gewissem Maße neben ihren Eltern ihr engster Vertrauter geworden war. Niemand wusste von jetzt an mehr über ihre wahre Identität Bescheid. Nur er. Der Mann vom Zeugenschutzprogramm.
Er gab ihr einen Umschlag.
„Deine neuen Papiere“, sagte er.
Bianka öffnete ihn. Ein Ausweis fiel ihr in den Schoß.
Viktoria Weier. Das war ab heute ihr Name.
Sie kannte ihn natürlich schon länger. Hatte wie verrückt gelernt. In der Hoffnung sich endlich ihre neue Lebensgeschichte merken zu können.
Wer war sie jetzt eigentlich? Eine vergessene Person? Eine tote Person? Eine ausgedachte Person? Oder vielleicht sogar eine verlogene Person?
Bianka blickte zur Scheibe, in der sie sich spiegelte.
„Ich bin Viktoria“, dachte sie und wischte eine Träne von ihrer Wange. Sie war tapfer.

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