"Die größte Leistung ist, sich selbst treu zu bleiben in einer Welt, die einen immerfort zu verändern sucht." Ralph Waldo Emerson

Anderer Sternenstaub

Freitag, 20. Januar 2012

Freiheit

Fröstelnd schnürte Thalea die Jacke enger und rieb ihre Hände aneinander. Hätte sie doch nur an ihre Handschuhe gedacht. Neue kaufen konnte sie so schnell nicht mehr. Sie musste sich ihr Geld einteilen. Die Stadt war so gut wie ausgestorben. Sie entdeckte lediglich einen Jogger und eine alte Frau auf der Straße. Es begann schon dunkel zu werden. Sie hatte sich noch keine Gedanken gemacht, wo sie eigentlich schlafen wollte.
Wahrscheinlich im Bahnhofsgebäude. Hier draußen würde sie schlichtweg erfrieren.
Sie begann sich die Frage zu stellen, ob sie nicht doch lieber zu Hause in ihrem warmen Bett liegen wollte. Zu Hause, wo es ihr an Spielzeug, neuen Klamotten oder neumodischer Elektronik nie gemangelt hatte. Dafür an Liebe umso mehr. Sie entschied sich für nein. Sie wusste, dass sie dabei war, die richtige Entscheidung zu treffen. Den Abschiedsbrief hatte sie auf ihr Kopfkissen gelegt. Sicher würde es dauern, bis ihre Eltern ihn überhaupt finden würden. Wann warfen sie schon mal einen Blick in ihr Zimmer? Besser gesagt, wann begegneten sie sich überhaupt? Der Vater war meistens auf Geschäftsreise. Die Mutter voll und ganz mit sich selbst und ihrer Schönheit beschäftigt. Wahrscheinlich würden sie sie gar nicht vermissen.
Sie wusste, dass keiner ihrer Freunde sie auch nur ansatzweise hätte verstehen können. Darum hatte sie über ihr Vorhaben geschwiegen.
Ihrer besten Freundin Kelsey hatte sie ebenfalls einen Brief hinterlassen. Sie würde aus allen Wolken fallen. Schließlich hatte sie keine Ahnung, welches Gefühl von Unzufriedenheit sich in Thalea in den letzten Tagen breit gemacht hatte.
Kelsey verbrachte ihre Zeit, nachdem sie das Abitur zusammen mit Thalea erfolgreich hinter sich gebracht hatte, hauptsächlich mit Partys und Shoppen.
Kelsey war im Großen und Ganzen genau so aufgewachsen, wie Thalea auch.
Die Väter zusammen im Golfclub. Die Mütter jeden Freitag gemeinsam bei der Gesichtspflege. Das war auch der Grund, weshalb Thalea und Kelsey seit dem Kindergarten unzertrennlich waren.
Aber in letzter Zeit hatte Thalea sich immer öfter fragen müssen, ob ihr Leben das war, was sie sich gewünscht hatte.
Das Medizinstudium bereitete ihr nun wirklich überhaupt keinen Spaß. Aber es hinzuschmeißen war für ihre Eltern natürlich undenkbar. Sicher hätte ihr Vater ihr einen ellenlangen Vortrag darüber gehalten, wie undankbar sie war, ein solch tolles Studium, welches ihre Eltern ihr voll und ganz finanzierten, einfach aufzugeben.
Und auch die Partys, auf denen sich alles nur darum drehte, das teuerste Outfit zu tragen, den verführerischsten Tanz hinzulegen und sich mit teurem Whiskey die Birne weg zu saufen nervten sie immer mehr.
Wenn sie versucht hatte mit Kelsey darüber zu reden, hatte diese nur gelacht, und gerufen:
„Du bist so eine Spielverderberin! Du solltest froh sein, dass wir die Möglichkeit haben unser Leben in vollen Zügen zu genießen!“
Doch genau das war der Punkt. So konnte sie ihr Leben nicht genießen. Sie wollte auf eigenen Beinen stehen. Irgendwie war immer alles so einfach für sie gewesen.
Sie wusste, dass sie eigentlich froh darüber sein sollte. Froh darüber, dass ihr alles immer zugeflogen war. Der Besuch der teuren Privatschule selbstverständlich. Unvorstellbar, sich den Führerschein selbst zu bezahlen oder gar dafür einen Nebenjob anzunehmen. Völlig normal in ein Geschäft zu gehen und einfach all das zu kaufen, was man wollte. Einen Blick auf das Preisschild zu werfen lächerlich.
Und in den letzten Monaten, war Thalea klar geworden, dass es nicht das war, was sie wollte. Sie musste hier raus. Weg von all dem.
Und jetzt war sie hier. Mutterseelenallein auf dem Weg zum Flughafen. Ihre Finger starr gefroren. Ihr Ziel war Australien. Da war es wenigstens warm, so versuchte sie sich zu trösten.
Sie hatte ihr gesamtes Ersparnis von ihrem Konto abgehoben. Sicher wäre es einfacher gewesen, einfach ihre Kreditkarten mitzunehmen. Aber sie wollte nicht, dass man sie fand.
Sie hatte in keinem der beiden Abschiedsbriefe erwähnt, wohin es sie zog.
Thalea hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, wenn sie in Australien angekommen war. Sie würde es einfach auf sich zukommen lassen.
Gerade diese Ungewissheit machte das ganze noch aufregender für sie. Ein Gefühl, das sie nie zuvor erlebt hatte, machte sich in ihr breit. Die Sehnsucht nach Freiheit.
Auf ihrem Weg zum Bahnhof musterte sie alles, was um sie herum geschah doppelt so genau wie sonst. Sie wollte all die Eindrückte noch ein letztes Mal in sich aufnehmen. Je mehr Menschen und Geschäfte sie kreuzte, je mehr Autos an ihr vorbei fuhren und je öfter sie von irgendwelchen halbstarken Jugendlichen blöd von der Seite angemacht wurde, desto größer wurde ihre Abneigung gegen ihre Heimat.
Nun stand sie vor dem großen Bahnhofsgebäude. Sie holte tief Luft. Dann schritt sie durch die Tür und ging schnurstracks zum Kartenschalter. Mit jedem Schritt, den sie zurück legte wuchs ihre Abenteuerlust.
Sie war sich vollkommen sicher: Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen