Warten
Traurig schaute Ute Eichenbach Luna an.
Mehrere Stunden stand das kleine Mädchen jetzt schon dort am
Fenster, völlig bewegungslos, sein Blick starr nach draußen
gerichtet. Seit vier Jahren tat es das nun schon. Immer drei Tage vor
seinem Geburtstag. Ute seufzte. Es hatte keinen Zweck.
„Schätzchen“, flüsterte sie und
strich Luna sanft über den Kopf, „meinst du nicht, wir sollten mal
wieder zu den anderen gehen? Es gibt gleich Essen.“
„Nein, ich warte noch“, antwortete
Luna und in ihrem Blick lag so viel Überzeugung und Fröhlichkeit,
dass es Ute fast das Herz brach.
Ute Eichenbach war Heimleiterin in
einem Heim für Kinder, die ihre Eltern verloren hatten. Sicher war
die Geschichte eines jeden Kindes, das hier leben, musste traurig,
aber Luna Schulte war ein besonderer Fall. Sie hatte ihre Eltern vor
vier Jahren durch einen Attentäter verloren.
Es war der Hochzeitstag ihrer Eltern
gewesen und aus diesem Grund wurde ein Kindermädchen für Luna
beauftragt, das, während die Eltern zu zweit in einem Restaurant
aufeinander anstoßen würden, auf das Mädchen aufpassen sollte.
Doch der Abend nahm ein schreckliches Ende. Ein psychisch gestörter
Mann stürmte das Restaurant und richtete ein Blutbad an.
Anschließend erschoss er sich selbst.
Als zwei Polizisten kamen, um über die
grausame Tat zu berichten, stand Luna alleine am Fenster. Sie hatte
sich mit aller Kraft dagegen gewährt, ins Bett geschickt zu werden.
„Ich warte auf Mama und Papa“, war
alles, was sie damals sagte.
Der Mord an ihren Eltern hatte sich
nicht nur an deren Hochzeitstag ereignet, es hätte auch nur noch
drei weitere Tage gedauert, bis Luna vier Jahre alt geworden wäre.
Seitdem stand sie immer drei Tage vor ihrem nächsten Geburtstag am
Fenster, Jahr für Jahr.
Die meisten Menschen, die mit Luna
gearbeitet hatten, gaben früher oder später auf. Sie schien partout
nicht einsehen zu wollen, dass ihre Eltern nicht mehr am Leben waren.
Es war nahe zu unheimlich, was sie für eine Lebensfreude an den Tag
legte. In den ganzen vier Jahren, die das Mädchen hier lebte, hatte
Ute Eichenbach es nicht ein einziges Mal traurig erlebt. Selbst, wenn
es irgendwann seinen Fensterplatz verlassen musste und begriff, dass
seine Eltern nicht kommen würden, lächelte es und meinte:“ Naja,
dann kommen sie eben nächstes Jahr.“
Von den anderen Kindern wurde Luna
gemieden. Ute Eichenbach hatte schon oft erlebt, dass einzelne sich
über sie und ihren scheinbaren Glauben daran, dass ihre Eltern noch
am Leben seinen, lustig machten. Andere fanden es unheimlich, wie sie
jedes Jahr zur selben Zeit am Fenster stand.
Ute war die Einzige, die fest daran
glaubte, dass es mit Luna irgendwann bergauf gehen würde. Dass sie
ihr Trauma überwinden und irgendwann mit der Verdrängung aufhören
würde.
Sie schaute auf die Uhr. Es war 6. Zeit
zum Abendessen.
„Luna, du solltest jetzt zum Essen
kommen, die anderen Kinder warten auf dich“, versuchte sie ein
letztes Mal das Mädchen zu überzeugen.
„Nein“, antwortete Luna und
schüttelte dabei langsam den Kopf. Dann sah sie Ute Eichenbach tief
in die Augen und sprach mit fester Stimme: „Ich verrate dir ein
Geheimnis. Auf mich wartet niemand, weißt du? Aber meine Eltern, die
schauen von oben auf mich herab und sehen, dass ich immer auf sie
warten werde.“ Mit diesen Worten drehte sie Ute wieder den Rücken
zu und schaute aus dem Fenster. Aber diesmal blickte sie nicht gerade
aus. Sie sah nach oben. Ihr Blick dabei war ernst.
Wow, toller Text!
AntwortenLöschenSelbstgeschrieben? (:
Jaa, vielen Dank :)
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